Kulturelle Wahrnehmung und der Sexismus von Terrace House

Die Bewohner von Terrace House.

Eigentlich bin ich großer Fan von „Terrace House”, nachdem ich erst zwei-drei mal davon in meiner Bubble gehört und letztendlich selbst mal reingeschaut habe. Seither empfehle ich es in meinem Freundeskreis auch immer weiter. Doch was ist „Terrace House”? Ich beschreibe es immer als eine Art japanisches „Big Brother”, nur weniger „niveaulos” und in netter, viel japanischer eben. Jeder, der schon mal mehr als eine Folge gesehen hat, wird sicherlich auch mitsprechen können, wenn es heißt:

Die Moderatoren von Terrace House.

Nach dieser Begrüßung erfolgt die Erklärung, was „Terrace House” denn nun eigentlich ist. Sechs Menschen, drei Frauen, drei Männer, wohnen zusammen in einem großen Haus, bekommen dabei Unterhalt und Auto gestellt und werden in ihrem Alltag beobachtet. Der Unterschied zu Formaten wie „Big Brother” liegt darin, dass die Bewohner weiterhin ihren normalen Jobs, Schule oder Uni nachgehen, jederzeit im Haus ein- und ausgehen können, alleine oder mit Kamera-Begleitung, es gibt keine “Challenges” und so weiter. Letztendlich wird der Alltag so normal wie möglich im Haus fortgeführt, am Ende winkt kein Preisgeld oder dergleichen. Eingangs hieß es, dass alles sehr japanisch sei. Da mag es den ein oder anderen vielleicht wundern, wenn direkt zu Einzug einer oder aller neuen Personen nach dem aktuellen Beziehungsstatus gefragt wird. Denn „Terrace House” ist eigentlich fast schon mehr eine Art Dating Show als Reality TV. Intention des Formats scheint, dass man einen Partner findet, wenn man schon mit anderen jungen Menschen unter einem Dach wohnt und ihnen näher kommt. Während auf die erste Staffel, die zwei Jahre lang lief und noch exklusiv nur in Japan über Fuji Television ausgestrahlt wurde, zunächst ein Film als Fazit zu der Staffel folgte, wurde das Format von Netflix übernommen und ist seither international zugänglich. Bisher sind drei Staffeln verfügbar, wobei die vierte aktuell noch läuft. Boys & Girls in the City wurde 2015 bis 2016 in Tokio aufgenommen, Aloha State von 2016 bis 2017 auf Hawaii und die aktuell laufende Staffel Opening New Doors (2017 – aktuell) findet im ländlicheren Karuizawa statt.

Moderiert wird „Terrace House” ebenfalls von sechs Leuten, genauso aufgeteilt kommentieren drei Frauen und drei Männer, allesamt aus der Unterhaltungs-Branche, das Wochengeschehen im Haus. Comedians sowie Schauspielerinnen/Sängerinnen, alle japanisch. Der YouTube-Channel PBS Idea hat in seinem Video „How Terrace House is like a Let’s Play” gut zusammengefasst, wie diese Moderation auf den Zuschauer wirkt. Es ist nämlich ähnlich wie beim Let’s Play. Wir sehen nicht nur das ursprüngliche Produkt, die Aufnahmen der Teilnehmer im Haus, zu dem wir uns unsere persönliche Meinung bilden können. Nein, im Anschluss sehen wir direkt die Reaktionen, Kommentare und Einschätzungen des Moderatorenteams im Studio. Dieses kommentierte Material kann uns vielleicht nochmal beeinflussen, wie es auch ein Freund tun könnte, mit dem wir über die Serie reden. Aber interessant ist dabei: Der Umgang mit einer (aufkommenden) Situation im Haus ist manchmal ganz anders als bei einer ähnlichen Situation im europäischen oder amerikanischen Raum, welche unterschiedlich gehandhabt werden würde. Man ist vielleicht beim ersten Sehen stutzig. Manchmal erklärt sich gewisses Verhalten dann durch den kulturellen Kontext, der durch das Moderatorenteam gegeben wird. Oder lässt einen noch mehr mit dem Kopf schütteln. Denn in einer Sache hängt das sonst von außen so modern und fortschrittlich wirkende Land ordentlich hinterher: Gleichberechtigung.

Boys & Girls in the City

Den harmlosen Anfang macht die aktuell älteste Staffel auf Netflix, Boys & Girls in the City. Schon in der ersten Folge, nachdem die hippen, modernen jungen Leute eingezogen und sich vorgestellt haben, begutachten sie das Haus, in dem sie von nun an gemeinsam leben werden. Beim Inspizieren der Küche ist sofort klar und wird von den Männern kommentiert: „Hier können die Frauen für uns kochen. Das ist Frauen-Sache.” – Eine Aufforderung, die des öfteren kommt. Beispielsweise im Small Talk, wo nach den sonstigen Hobbies und der Freizeitgestaltung gefragt wird und ohne, dass seine Gesprächspartnerin das Kochen überhaupt erwähnt, wird sie danach gefragt, ob und was sie kocht. Und dass (nicht ob) sie mal für ihn kochen sollte. Besonders in dieser Staffel, die bis dato am längsten und über ein Jahr lang lief, hat man einige Bewohner und Bewohnerinnen kommen und gehen gesehen. Darunter auch mal die ein oder andere Frau, die nicht einfach nur alles hinnahm und Störpunkte offen und ehrlich ansprach. Mit dem Resultat, dass sie der Störfaktor wurde. Konfliktbereitschaft ist bei Frauen nicht gern gesehen und vor allem kein gutes Girlfriend-Material. Wohingegen die Männer sich durchweg über die Frauen auslassen können, ohne das dazu jegliche Kritik aus Reihen der Mitbewohner oder Moderatoren käme. Oberflächlich wird ihr Aussehen und ihre Körper in Bikinis beurteilt, Frauen auf ihre (großen) Brüste reduziert oder auf tiefgründigerer Ebene die Lebensträume einer Bewohnerin als „sinnlos” am Boden niedergetrampelt. Statt für sich oder ihre Mitbewohnerin einzustehen, wird diesem Kommentar zärtlich beigepflichtet „ja, irgendwie stimmt es ja schon…”. Ein Abend, der in Tränen endete, als eine junge Frau dank ihrer fünf neuen Mitbewohner an ihren Träumen von einem eigenen Café zu zweifeln beginnt.

Aloha State

In der zweiten Staffel werden immer noch höfliche Umgangsformen miteinander gepflegt, aber man merkt gleichzeitig deutlich, dass es westlichen Reality-Formaten näher kommt, vor allem gegen Ende der Staffel, als eine Bewohnerin deutlich macht, dass sie einfach ihren Spaß (mit Männern) sucht und dabei wahrlich ungebunden ist. Es gibt mehr Streit, mehr Konflikte, Gemüter sind explosiver und Frauen sagen öfter ihre Meinung. Ich würde behaupten, dass es aber vor allem daran liegt, dass ca. 90% der Bewohner dieser Staffel Hafus sind. Hafu kommt von der japanischen Art und Weise das englische „half” auszusprechen, sprich: „Bist du [ein] Hafu (Halb-Japaner)?” Da Aloha State als bisher einzige Staffel nicht in Japan, sondern auf Hawaii stattfindet, ist der „Ausländeranteil” sehr groß. Halbjapaner mit verschiedensten ethnischen Hintergründen treffen aufeinander, Japaner die ins Haus einziehen haben vorher auf Hawaii oder Los Angeles gelebt. Die Bewohner nahezu alle dadurch eine mehr westliche sozio-kulturelle Prägung und stecken nicht mehr so festgefahren in alten Rollenklischees. Bei vielen Zuschauern ist die Staffel jedoch nicht so beliebt, da es eben öfter zu Streitereien und Konflikten kommt und es weniger harmonisch zugeht als bei Boys & Girls in the City, wo verbale Schläge noch schweigend akzeptierend, im schlimmsten Fall noch dankend hingenommen wurden.

Was „Terrace House” außerdem von anderen, uns bekannten Reality-Formaten unterscheidet: die Teilnehmer können im Haus selbst die aktuell ausgestrahlten Folgen sehen: was wer wann gesagt hat, wie die Moderatoren das Geschehen kommentieren und wie in den sozialen Medien auf das Gezeigte reagiert wird. Eine Folge, die etwa 40 Minuten lang geht, bildet eine Woche im Haus ab. Ungefähr alle zwei Monate werden so um die acht neue Folgen auf Netflix hochgeladen. So kann es sein, dass später einziehende Teilnehmer ihre neuen Mitbewohner bereits aus dem Fernsehen kennen (und auch ihr bisheriges Verhalten kommentieren). Es kann aber auch dazu führen, dass die Bewohner ihr Verhalten reflektieren, nachdem sie sich selbst oder die Reaktionen anderer gesehen haben. Das könnte auch ausschlaggebend für das gewesen sein, was zuletzt in der aktuellen Staffel „Opening New Doors” vorgefallen ist.

Opening New Doors

Nach den Raufereien von „Aloha State” wird „Opening New Doors” im ländlichen Skigebiet Karuizawa wieder ruhiger, bodenständiger und harmonischer. Die Teilnehmer scheinen sich alle gut miteinander zu verstehen und es kommt zu zärtlicher Zuneigung. Gegen Mitte der Staffel zeigt Bewohner Shohei sein Interesse an Mitbewohnerin Seina. Seina selbst ist schon zu einem Star des Terrace-House-Universums geworden, war sie Teilnehmerin der allerersten Staffel, die noch ohne Zusammenarbeit mit Netflix produziert und veröffentlicht wurde. Bereits dort war sie dafür bekannt, offen über ihre Meinung zu sprechen und ein starkes Selbstbewusstsein zu haben, dass sie in den vergangenen Staffeln immer mal wieder erwähnt und an sie erinnert wurde. Sie lässt sich auf Musiker Shohei ein und erzählt den anderen Frauen im Haus, dass er optisch vielleicht nicht ihr Typ sei, aber eine gewisse Aura ihn umstrahlt und interessant macht, wenn sie ihn auf der Bühne performen sieht. Sie fangen an zu daten. Kurze Zeit später, nachdem ihre Mitbewohnerinnen sie nach dem Date befragen, äußert sie wieder ihre Zweifel. Shohei sei zwar ein sehr netter Mann, aber sie habe lieber jemanden, der auch mal die Zügel in die Hand nehmen und stürmischer sein könne. Sie treffen sich weiterhin, wobei Seina aufgrund ihrer Modeljobs öfter tagelang weg und in den Folgen kaum zu sehen ist. Bis Shohei sie erneut ausführt und ihr Date damit endet, dass sie angetrunken auf ein Taxi warten, Seina wartend, den Kopf abgeneigt von Shohei, auf die Straße blickend. Zeit für Shohei Taten sprechen zu lassen, also packt er sie an der Wange und drückt fast schon brutal ihr Gesicht in seins, um sie zu küssen. Als danach die Kameras wieder das Leben im Haus zeigen, bei der Ankunft der beiden, sehen wir erstmals eine Seina, die komplett neben sich zu stehen scheint. Von der starken, selbstbewussten Frau ist nach diesem aufgezwungenem Kuss nichts mehr zu sehen. Während zu Zeiten von #metoo beim Beobachten dieser Szene, wie Shohei Seinas Kopf packt und mit Kraft an sich zieht schon Alarmglocken schlägt, geht der Schockmoment direkt weiter.

Als die Moderatoren die Szene nun kommentieren, freuen sie sich, dass es endlich zu einem Kuss kam, statt wie die wohl meisten (westlichen) Zuschauer geschockt zu sein. Seinas Verhalten, die danach aussieht wie das Reh im Scheinwerferlicht und nicht weiß, was sie tun soll, wird als „das sinnliche Verlangen einer Frau” gedeutet. Sie könne an gar nichts anderes als Shohei und den Kuss denken. Diesen Gedanken teile ich, aber aus einem weitaus anderen Grund. Dies war kein sinnlicher Kuss, dies war ein gewaltsam aufgezwungener. Shohei prahlt vor seinen männlichen Mitbewohnern damit und dass sie sich im Taxi noch weiter geküsst hätten – Szenen, die dem Zuschauer jedoch verwehrt blieben. Einzig eine der Moderatorinnen wagt die “Sinnlichkeit” des Kusses zu bezweifeln, dass Seina diesen Kuss vielleicht gar nicht wollte und deswegen nun so perplex wirkt… aber wenn Shohei sagt, sie hätten im Taxi weitergeküsst, dann wird es schon okay gewesen sein, beschwichtigt sie direkt im Anschluss. So romantisch scheinen ihre Gefühle für Shohei doch nicht zu sein. Was vielversprechend begann, endet mit einer Abfuhr, als er sie fragt, ob sie seine Freundin sein möchte.

Sexismus und sexuelle Übergriffe scheinen in der sonst so harmonischen Welt von „Terrace House” leider ganz alltäglich zu sein. Und obwohl wir in der Präsentation das Verhalten doppelt reflektiert gezeigt bekommen, von den Mitbewohnern und den Moderatoren, scheint niemand diese Probleme zu sehen oder wahrzunehmen. Da die Serie mittlerweile aber auch international gezeigt wird und auch ein internationales Publikum online seine Reaktionen zeigt, bleibt zu hoffen, dass weltweite Reaktionen auf das Geschehen die Sache in ein andere Licht rücken und für mehr Verständnis sorgen. Während mit der Abfuhr Shoheis die ganze Seina-Shohei-Affäre schon wieder vergessen scheint, bleibt es künftig spannend im „Terrace House”. In der letzten der aktuellen Folgen sehen wir einen neuen Bewohner einziehen, der vor seinen männlichen Mitbewohnern offen zugibt, unsicher in seiner sexuellen Orientierung zu sein und darauf hofft, durch das Zusammenleben mit Männern und Frauen, endlich Klarheit zu gewinnen. Mit diesem Outing endet die aktuelle Folge. Das „Terrace House” hat seinen ersten LGBTQ+-Bewohner.

Sexismus in Japan

Noch immer werden Frauen in Japan häufig mit Sexismus konfrontiert. Zuletzt haben wir weltweit davon mitbekommen, als sich der Skandal um die Tokyo Medical University auftat. Jahrelang hat die Hochschule die Testergebnisse weiblicher Bewerberinnen manipuliert, um sie so vom Medizinstudium ausschließen zu können. Und als #metoo  immer mehr an Aufmerksamkeit gewann, wurde das Thema in Japan immer noch (möglichst) tot geschwiegen. Es kam zu Äußerungen von Finanzminister Taro Aso, dass „sexuelle Belästigung kein Verbrechen (in Japan) sei”, während rund 30% der weiblichen Bevölkerung sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt. Von den Betroffenen gaben 64% an, dies (bisher) stillschweigend hingenommen zu haben, nur eine von zehn Frauen hat das Problem angesprochen und ihre männlichen Mitarbeiter konfrontiert. Ohne ernst genommen worden zu sein. Im traditionellen Rollenbild der Japaner hat die Frau sich noch immer um Haushalt und Kindererziehung zu kümmern. Während die meisten Frauen Teilzeit oder in niedrigeren Positionen tätig sind, werden nur etwa 8% der Führungspositionen in Japan von Frauen innegehalten.

Übrigens ermöglicht auch Sayaka Muratas Roman „Die Ladenhüterin” einen (un)angenehmen Einblick in den japanischen Alltagssexismus. Das Buch haben wir bereits auf Red Riding Rogue vorgestellt.

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