Die Ladenhüterin – Was ist schon normal?

Keiko Furukura ist anders. Gefühle sind ihr fremd, das Verhalten ihrer Mitmenschen irritiert sie meist. Um nirgendwo anzuecken, bleibt sie für sich. Als sie jedoch auf dem Rückweg von der Uni auf einen neu eröffneten Supermarkt stößt, einen sogenannten Konbini, beschließt sie, dort als Aushilfe anzufangen. Man bringt ihr den richtigen Gesichtsausdruck, das richtige Lächeln, die richtige Art zu sprechen bei. Keikos Welt schrumpft endlich auf ein für sie erträgliches Maß zusammen, sie verschmilzt geradezu mit den Gepflogenheiten des Konbini. Doch dann fängt Shiraha dort an, ein zynischer junger Mann, der sich sämtlichen Regeln widersetzt. Keikos mühsam aufgebautes Lebenssystem gerät ins Wanken. Und ehe sie sichs versieht, hat sie ebendiesen Mann in ihrer Badewanne sitzen. Tag und Nacht.

Klappentext zu „Die Ladenhüterin” von Sayaka Murata

In ihrer Heimat Japan ist Autorin Sayaka Murata mit ihrem Debutroman „Die Ladenhüterin” ein Bestseller gelungen. Die kurze, leichte Geschichte scheint einen Nerv getroffen zu haben. In einer Welt voller Leistungsdruck gegen den Strom zu schwimmen – und zufrieden damit zu sein. Doch was, wenn sich dieser Strom in einem Haifischbecken befindet und es nur eine Frage der Zeit ist, bis das Verhalten und die eigene Art zu leben dem Umfeld negativ aufstößt? Autorin Murata zeigt wunderbar mit dem Finger und legt diesen damit in eine Wunde und hält uns allesamt gleichzeitig einen Spiegel vor’s Gesicht.

Keiko Furukura ist anders. So leitet bereits der Klappentext ein. Zu Beginn des Romans erzählt Keiko schon aus ihrer Kindheit, wo sie immer öfter aufgefallen ist, weil sie anders war. Früher noch ein aufgewecktes Kind hat sie sich schnell zurückgezogen, nachdem Mutter und Familie sie immer wieder auf ihr Fehlverhalten aufmerksam gemacht haben. „Das ist nicht normal.” Es wird zu keiner Zeit angesprochen und auch nicht weiter ausgeführt, aber die Beschreibungen lassen darauf schließen, dass Keiko zumindest in einer Art und Weise autistisch veranlagt ist. Ihr fällt es schwer Situationen und Gefühle zu deuten. Wo sie früher noch als Kind in ihrem Umfeld immer wieder angeeckt ist und sich die Familie nur eine Heilung für sie wünschte, scheint Keiko mit 18 Jahren nun doch endlich einen Platz in dieser Welt gefunden zu haben – im Convinience Store.

Aus dem wird nichts mehr. Er ist erledigt. Eine Last für die Gesellschaft. Der Mensch hat die Pflicht, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden, indem er einen Beruf ergreift oder eine Familie gründet. Oder beides.

Convinience Stores, meist als Konbini abgekürzt, finden sich in Japan an jeder Ecke. Und noch in den Straßen zwischen den Ecken. Die 24-Stunden-Supermärkte bieten das Nötigste in ihrem Sortiment sowie praktische Fertiggerichte für die zum Kochen zu beschäftigte Gesellschaft. Wer schon mal in Japan war, war sicherlich auch schon mal in einem Konbini. Das Personal trägt dort nicht nur die gleiche Uniform, es muss auch stets im gleichen Ton und Wortlaut mit den Kunden gesprochen werden. Für alles gibt es Regeln, damit die Kette landesweit ihren Standard hält. Keiko ist fasziniert von diesem eigenen, kleinen Mikrokosmos, der sich in dieser hektischen Welt entwickelt hat. Als sie sieht, dass ein neuer Konbini um die Ecke eröffnet, ergreift sie ihre Chance und wird Aushilfe der ersten Stunde. Im dreitägigen Workshop vor Eröffnung des Ladens bekommen die Mitarbeiter genauestens gezeigt, wie sie sich zu verhalten haben. Was zu tun ist. Wie sie zu sprechen haben. Mit Videos und Übungsszenarien werden sie vorbereitet. Keiko lernt zu imitieren, hat endlich einen Job, scheint sich in die Gesellschaft eingegliedert zu haben. Ihre Familie ist erleichtert. Ist sie doch endlich geheilt?

Mittlerweile ist Keiko 36 Jahre. Sie ist die einzige, die noch seit Eröffnung des Konbinis vor 18 Jahren dort arbeitet – in ihrer Aushilfsposition. Über die Zeit hat sie nicht nur die Vorgaben der Übungsvideos perfektioniert, um nicht weiter aufzufallen, eignet sie sich die Eigenschaften ihrer gleichaltrigen Mitarbeiterinnen ein. Sie studiert ihre Sprechweise und übernimmt sie, achtet auf die Marken, die ihre immer für ihr Aussehen gepriesene Kollegin trägt. Während ihre Familie mittlerweile nur noch froh ist, dass Keiko überhaupt arbeitet, konnte sie sich bisher wunderbar im Mikrokosmos des Konbinis tarnen. Bis… langsam die Fragen auftauchten. „Warum arbeitest du mit 36 noch in einem Konbini?”, „Dein Mann muss bestimmt gut verdienen!”, „Willst du denn keine richtige Karriere machen?”. Die Fragen häufen sich, das Interesse an ihrem Privatleben, der Druck steigt. Bisher ist es Keiko gelungen, normal zu erscheinen. Doch die Maske beginnt zu bröckeln. So auch ihre Welt.

Normalität setzt sich gewaltsam durch, Fremdkörper werden einfach beseitigt. Menschen, die nicht richtig funktionieren, werden entsorgt.

Auch wenn dieser krasse, gesellschaftliche Leistungsdruck in Japan sicherlich nochmal präsenter ist als bei uns, wo Freigeister noch eher akzeptiert werden, kritisiert der unterhaltsame Roman an den richtigen Stellen. Beim Lesen habe ich mich einige Male in Keikos Position wiedergefunden. Ein spürbarer Druck von außen, der nicht nur Frauen wie Keiko trifft, sondern uns alle. „Du bist noch Jungfrau?”, „Du hast keinen Partner?”, „Du willst keine Kinder?”, „Willst du dein Leben lang nur als Aushilfe arbeiten?”, „Wenn du schon keinen Mann hast, warum willst du dann keine Karriere machen?”, „Wirst du nicht langsam zu alt?”. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ein jeder,  der diese Zeilen nun liest, mindestens eine dieser Fragen bereits in seinem Leben gehört hat. Fragen zu unserem Privatleben. Einem Bereich, der eigentlich niemanden außer uns etwas angeht. Den wir frei gestalten können sollten. Gleichzeitig sind auch wir vielleicht zu neugierig und mischen uns gern in die Dinge anderer ein. Ich denke ein jeder findet sich irgendwo im Roman wieder und kann aus der Geschichte für sich selbst noch etwas mitnehmen, auch wenn es vielleicht eigentlich schon längst klar war. Es zeigt, dass eben leider doch noch nicht alles selbstverständlich ist.

Eigentlich finde ich es als Leidende ehrlicher, es frontal mit der Welt aufzunehmen und das eigene Leben der Erlangung von Freiheit zu widmen.

Es macht Spaß, auch wenn es manchmal schmerzt, Keikos tapferen Weg zu begleiten, wie eine Frau letztendlich zu sich selbst findet, entgegen allen Normen. Es bleibt nur zu Hoffen, dass Sayaka Muratas Debutroman „Die Ladenhüterin” auch hierzulande ein Erfolg wird. Ich bin schon sehr gespannt, welche Geschichten Murata in Zukunft noch erzählen wird.

„Die Ladenhüterin” von Sayaka Murata ist am 9. März 2018 beim Aufbau-Verlag erschienen. Ihr bekommt den Roman als Hardcover für 18 Euro, als eBook für 13,99 Euro auf Amazon (Ref-Link).

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